Dienstag, 30. August 2016

Boy - Wytske Veersteg



Was bedeutet es sein Kind zu verlieren? In dem Roman „Boy“ der niederländischen Autorin Wytske Versteeg bekommt der Leser einen Eindruck vom schmerzvollen Seelenleid einer Mutter, die ihren Adoptivsohn verliert. Eine beklemmende, aber auch eindrucksvolle Geschichte über Trauer, Depressionen und die Frage nach Schuld. 

Sie versuchen es. Immer wieder. Vergeblich. Die namenlose Ich-Erzählerin und ihr Mann Mark wollen unbedingt ein Kind, doch sie wird nicht schwanger. Also entscheiden sie sich für „Boy“ – einen kleinen afrikanischen Jungen. Ihn wollen sie adoptieren, lieben und glücklich machen. Doch der Plan geht nicht auf: Boy entwickelt sich zum Außenseiter und zieht sich immer mehr in sich zurück. Mit 14 kommt Boy nicht mehr nach Hause und die Polizei kann nur noch seine Leiche bergen. Es sieht nach Selbstmord aus:

 „Die Leiche kommt immer wieder hoch,“ sagte die Frau. „Die Leute denken nur, man kann einfach verschwinden.“ […] Die Polizisten waren gekommen, um den Satz zu sagen, den ich nicht hören wollte. Eigentlich hätte ich mir jetzt die Ohren zu halten und laut singen, ein Geräusch machen müssen, egal welches, Hauptsache laut genug, um ihre Nachricht zu übertönen, sie rückgängig zu machen. „Sie denken, ´ich mach Schluss, und das war`s dann`. Aber die Leiche kommt immer wieder hoch.“

Hart und direkt ist der Ton – beklemmend die Stimmung. Als Leser bekommt man einen ungefilterten Einblick in das dunkle Seelenleid einer zutiefst trauernden Mutter. Anders als ihr Mann kann sie sich nicht damit abfinden, dass ihr Kind Selbstmord begangen hat. Ihr Mann stellt sich dem Verlust, nimmt sein Leben wieder auf – sie sucht auch Jahre später immer noch nach Antworten. Und so findet sie Hannah. Hannah hat an Boys Schule Theater unterrichtet und war als letzte mit ihm zusammen. Für die Mutter macht sie das zu einer Verdächtigen und schnell auch zu einer Schuldigen:

 „Ich werde sie kennenlernen, sie und ihre Version der Ereignisse, erfahren, was passiert ist, was sie mit meinem Kind gemacht hat, wie sie es versäumt hat, ihn zu beschützen. Wenn ich anschließend weiß, wie ich es anstellen werde, wenn ich weiß, was sie denkt, wie sie lacht und wie ihr Gesicht aussieht, wenn sie sich allein wähnt, wenn ich all das weiß, werde ich sie töten.“

Dominieren den ersten Teil des Romans vor allem Trauer und Hilflosigkeit, rücken jetzt Wut und Hass in den Vordergrund. Die Mutter wird von ihren Rachefantasien beherrscht und der Leser bangt, ob sie ihre Pläne in die Tat umsetzt. Die Bedrohlichkeit wächst und die Spannung nimmt mit jeder Seite zu. Und irgendwann beginnt Hannah von Boy zu erzählen. Sie schildert das Bild eines verzweifelten und einsamen Jungen. Ihre Schilderungen gehen unter die Haut und sorgen dafür, dass auch die Mutter ihr Verhältnis noch einmal überdenkt: War da nicht von Beginn an eine Distanz, die sie einfach nicht überwinden konnte?

 „Einmal ertappte ich ihn mit rotgemalten Lippen vor dem Spiegel und fragte mich plötzlich, wer dieser Boy eigentlich war, und ob wir diesen Menschen wirklich so genau kennenlernen wollten, wie wir immer behaupteten, […].“

Die Autorin Wytske Versteeg hat in ihrem Roman eine Vielzahl von Themen untergebracht: Es geht um Trauer, um Depressionen, um die Frage nach Schuld – wer hat Schuld an Boys Tod? – und es geht  um Heimat, die Suche nach Zugehörigkeit und den gesellschaftlichen Zwang sich anzupassen. Die Figuren schlagen sich mit diesen Problemen rum und scheitern immer wieder. Das macht den Roman zu einem bedrückenden Leseerlebnis. Die Autorin schildert die Gefühle der Figuren, ihr Leid so facettenreich, dass ihr Handeln nachvollziehbar und glaubhaft wird. Der Leser wird dadurch zu einem Mitfühlenden und kann den Roman „Boy“ am Ende nicht mehr einfach abschütteln. Ein intensives, überraschendes und überzeugendes Buch!



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