Was bedeutet es sein Kind zu verlieren? In dem Roman
„Boy“ der niederländischen Autorin Wytske Versteeg bekommt der Leser einen
Eindruck vom schmerzvollen Seelenleid einer Mutter, die ihren Adoptivsohn
verliert. Eine beklemmende, aber auch eindrucksvolle Geschichte über Trauer,
Depressionen und die Frage nach Schuld.
Sie versuchen es. Immer wieder. Vergeblich. Die
namenlose Ich-Erzählerin und ihr Mann Mark wollen unbedingt ein Kind, doch sie
wird nicht schwanger. Also entscheiden sie sich für „Boy“ – einen kleinen
afrikanischen Jungen. Ihn wollen sie adoptieren, lieben und glücklich machen.
Doch der Plan geht nicht auf: Boy entwickelt sich zum Außenseiter und zieht
sich immer mehr in sich zurück. Mit 14 kommt Boy nicht mehr nach Hause und die
Polizei kann nur noch seine Leiche bergen. Es sieht nach Selbstmord aus:
„Die Leiche kommt immer wieder hoch,“ sagte
die Frau. „Die Leute denken nur, man kann einfach verschwinden.“ […] Die
Polizisten waren gekommen, um den Satz zu sagen, den ich nicht hören wollte.
Eigentlich hätte ich mir jetzt die Ohren zu halten und laut singen, ein
Geräusch machen müssen, egal welches, Hauptsache laut genug, um ihre Nachricht
zu übertönen, sie rückgängig zu machen. „Sie denken, ´ich mach Schluss, und das
war`s dann`. Aber die Leiche kommt immer wieder hoch.“
Hart und direkt ist der Ton – beklemmend die Stimmung.
Als Leser bekommt man einen ungefilterten Einblick in das dunkle Seelenleid einer
zutiefst trauernden Mutter. Anders als ihr Mann kann sie sich nicht damit
abfinden, dass ihr Kind Selbstmord begangen hat. Ihr Mann stellt sich dem
Verlust, nimmt sein Leben wieder auf – sie sucht auch Jahre später immer noch
nach Antworten. Und so findet sie Hannah. Hannah hat an Boys Schule Theater
unterrichtet und war als letzte mit ihm zusammen. Für die Mutter macht sie das
zu einer Verdächtigen und schnell auch zu einer Schuldigen:
„Ich werde sie kennenlernen, sie und ihre
Version der Ereignisse, erfahren, was passiert ist, was sie mit meinem Kind
gemacht hat, wie sie es versäumt hat, ihn zu beschützen. Wenn ich anschließend
weiß, wie ich es anstellen werde, wenn ich weiß, was sie denkt, wie sie lacht
und wie ihr Gesicht aussieht, wenn sie sich allein wähnt, wenn ich all das
weiß, werde ich sie töten.“
Dominieren den ersten Teil des Romans vor allem Trauer
und Hilflosigkeit, rücken jetzt Wut und Hass in den Vordergrund. Die Mutter
wird von ihren Rachefantasien beherrscht und der Leser bangt, ob sie ihre Pläne
in die Tat umsetzt. Die Bedrohlichkeit wächst und die Spannung nimmt mit jeder
Seite zu. Und irgendwann beginnt Hannah von Boy zu erzählen. Sie schildert das
Bild eines verzweifelten und einsamen Jungen. Ihre Schilderungen gehen unter
die Haut und sorgen dafür, dass auch die Mutter ihr Verhältnis noch einmal
überdenkt: War da nicht von Beginn an eine Distanz, die sie einfach nicht
überwinden konnte?
„Einmal ertappte ich ihn mit rotgemalten
Lippen vor dem Spiegel und fragte mich plötzlich, wer dieser Boy eigentlich
war, und ob wir diesen Menschen wirklich so genau kennenlernen wollten, wie wir
immer behaupteten, […].“
Die Autorin Wytske Versteeg hat in ihrem Roman eine
Vielzahl von Themen untergebracht: Es geht um Trauer, um Depressionen, um die
Frage nach Schuld – wer hat Schuld an Boys Tod? – und es geht um Heimat, die Suche nach Zugehörigkeit und
den gesellschaftlichen Zwang sich anzupassen. Die Figuren schlagen sich mit
diesen Problemen rum und scheitern immer wieder. Das macht den Roman zu einem
bedrückenden Leseerlebnis. Die Autorin schildert die Gefühle der Figuren, ihr
Leid so facettenreich, dass ihr Handeln nachvollziehbar und glaubhaft wird. Der
Leser wird dadurch zu einem Mitfühlenden und kann den Roman „Boy“ am Ende nicht
mehr einfach abschütteln. Ein intensives, überraschendes und überzeugendes
Buch!
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